Bis anhin blieb ich davon verschont. Von «nett» gemeinten Tipps Aussenstehender. Von Leuten, die dich und deinen Nachwuchs beäugen und nur darauf warten, dass du einen elterlichen Fehltritt begehst und sie einen weisen Kommentar abgeben können.
Besserwisserische Erziehungstipps von älteren Damen, pädagogisch versierten Mamas oder schlecht gelaunten Passanten waren für mich also ganze zwei Jahre lang ein Mythos. Bis ich neulich einen handgeschriebenen Zettel bei uns im Briefkasten vorfand. Von unseren – wohlbemerkt kinderlosen – Nachbarn, die ich noch nie zu Gesicht bekommen habe.
Die Autonomiephase oder The Terrible Twos
Nun, ich hole an dieser Stelle mal ein bisschen aus. Unsere Tochter feiert bald ihren zweiten Geburtstag. Welch schönes Ereignis! Und auweia – welch gefürchtetes Alter! Geht es doch mit den trotzigen Autonomiephasen, den «Terrible Twos», Hand in Hand. Und unser Minimädchen macht dem Ausdruck wirklich alle Ehre.
Windeln wechseln? Verweigert sie partout. Schneeschuhe anziehen? Sie schreit wütend: «Abzieh, abzieh!!». Es MÜSSEN die adidas Sneakers sein. Schnee hin oder her. Duplo-Turm eingestürzt? Es folgt ein Ausraster. Gefolgt von bunten Plastikklötzen, die quer durch die Wohnung fliegen. Wenn es nicht nach ihrem Köpfchen geht oder ihr etwas misslingt, schmeisst sie sich auf den Boden, tobt und schlägt mit allen Vieren wild um sich.
Meist stehe ich ziemlich hilflos daneben. Versuche zu beschwichtigen, zu verhandeln, abzulenken, tief durchzuatmen, auf zehn zu zählen und mich darauf zu konzentrieren, nicht ebenso mit Wut zu reagieren. Denn von Ratgeberseiten weiss ich: Gelassenheit und Geduld sind in derartigen Situationen die erfolgreichsten Reaktionen. Rein theoretisch.
Erste Autonomiebestrebungen
Im Gegensatz zu unseren Nachbarn weiss der dänische Familientherapeut Jesper Juul, worum es geht: «Es ist eine natürliche Entwicklung, dass sich das zwei- bis dreijährige Kind aus der kompletten Abhängigkeit von den Eltern zu einem teilweise unabhängigen Individuum entwickelt. […] Wenn die Eltern versuchen, diese Entwicklung des Kindes zu verhindern, zu beeinträchtigen oder darüber zu bestimmen, dann wird das Kind trotzen.» (via derstandard.at)
Für die Eltern ist die Autonomiephase nervaufreibend. Und dennoch darf man stolz auf sein Kind sein. Denn es ist gerade dabei, neue Fertigkeiten, Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl für sich zu entdecken. Allerdings ist es auch für ein kleines Kind nicht immer einfach, mit dem Gefühlschaos klarzukommen (das kriegen ja sogar wir Erwachsenen nicht immer hin). Es hat Schwierigkeiten zu verstehen, dass die Eltern in manchen Situationen nicht dasselbe wollen, wie es selbst.
Ein paar konstruktive Möglichkeiten
Wie aber können wir als Eltern das unberechenbare Verhalten unserer Kinder in der Autonomiephase und die damit einhergehenden Stresssituationen am besten meistern? Ich habe ein paar Mamis nach Rat gefragt, im Internet recherchiert und eigene Erfahrungen in die folgenden Punkte reingepackt:
- Oberstes Gebot der Autonomiephase: Sich nicht provozieren lassen und Ruhe bewahren.
- Dem Kind zeigen, dass man Verständnis für seine Emotionen hat und sich nicht darüber lustig machen: «So eine Wut im Bauch zu haben, ist ganz schön blöd. Wenn du fertig damit bist, können wir wieder zusammen spielen.»
- Dem Kind auch mal erlauben, trötzlen zu dürfen. Das geht natürlich nicht in allen Situationen und am besten zuhause.
- Auf das Kind einreden bringt während eines Anfalls nichts, weil das Kind emotional überladen ist. Erklärungen und Regeln haben nach dem Wutanfall Platz und Zeit.
- Etwas Unerwartetes tun, um die Kleinen aus dem Konzept zu bringen. Wenn sich das Kind beispielsweise am Boden wälzt, eine Sitzgelegenheit und einen Becher Wasser anbieten.
- Mit Spass die Situation neutralisieren und spielerisch verpacken. Kleinen Zerstörern könnte man noch mehr zum Kaputtmachen bringen. Zum Beispiel Altpapier, das man dann zusammen zerreisst.
- Wenn das Kind etwas ungefährliches selber probieren will, das es offensichtlich noch nicht alleine kann – gewähren lassen. Mini hilft mir jeweils beim Rüebli oder Gurken schälen. «Nein, du kannst das noch nicht, lass mich das machen» ist kontraproduktiv.
- Morgens genügend Zeit einberechnen, damit die Kleinen bestimmte Dinge, wie zum Beispiel das Anziehen, selbst erledigen können. Je mehr man drängelt, desto unkooperativer werden die Kinder und desto wahrscheinlicher wird ein Trotzanfall.
- Das Kind nach einem Wutanfall in den Arm nehmen und sagen, dass man es lieb hat. Meist ist dann das Bedürfnis nach Zuneigung und Aufmerksamkeit besonders gross.
- Sich immer bewusst sein: Das Kind kann nicht anders. Es weiss nicht, wie es sein Gefühlschaos bändigen kann. Es reagiert nicht extra so.
- Nicht nachtragend sein. Die Trotzphase/Autonomiephase ist ein natürliches Verhalten, das zur Entwicklung des Kindes beiträgt und von dem es etwas lernen kann.
- Sich selber vergeben, wenn man doch mal laut wurde und überreagiert hat.
Wichtig aber scheint zu sein, dass wir Eltern konsequent sind. So sollte beispielsweise jedes «Nein» überdenkt und sparsam verwendet werden. Nicht zuerst «Nein» und dann doch «Ja» sagen. Ansonsten wissen die Kleinen, dass sie nur laut genug schreien müssen, um etwas zu bekommen. Nach Jesper Juul darf man das Kind zuhause und in der Öffentlichkeit auch nicht unterschiedlich behandeln. Ansonsten verliert es das Vertrauen in die Eltern.
Ein paar unüberlegte Worte der Nachbarn
Nun aber zurück zu unseren Nachbarn und dem Zettel mit den handgeschriebenen Lettern. Sie kamen nämlich – trotz der dicken Wände – nicht umhin zu hören, dass unser Kind sehr oft und sehr laut schreie. Welch dramatische Aussage. Sie müssen wohl mitbekommen haben, dass der Duplo-Turm eingestürzt ist. Oder ich Mini zu erklären versuchte, dass sich die adidas Sneakers für in den Schnee bei minus sieben Grad Celsius leider nicht so gut eignen. Oder dass ich ihr ein zweites Stück Kuchen verweigerte.
Freundlicherweise legten sie dem Schreiben noch Kontaktdaten bei. Ich freute mich schon und dachte erst, sie wollten mal als Babysitter einspringen. Nein. Es war die Telefonnummer der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Klinik für die Anmeldung zur Sprechstunde für Kleinkinder mit Schlaf- und Schreiproblemen. So nett.
Nun ja. Das nächste Mal, wenn der liebe Herr Nachbar nachts um drei Uhr seinen Bass durch das Haus dröhnen lässt und mein Mann im Pyjama bei ihm klingeln und ihn bitten muss, die Musik leiser zu stellen, dann gebe ich ihm die Kontaktdaten von Jesper Juul mit. Der weiss nämlich, worum es hier geht.
Dieses Buch hier über die Autonomiephase ist übrigens meine allerneuste Bettlektüre. Wäre vielleicht auch noch was für den ahnungslosen Nachbarn.
Beitragsbild: © iStock / SbytovaMN
12 Comments
Stefanie
31. Januar 2017 at 14:12Liebe Isabel
Nette Nachbarn hast du 😉 Oje, gewisse Leute warten wirklich nur darauf! Danke für den hilfreichen Beitrag und die tollen Tipps! Ich werde mir diese merken. Vor allem auch den mit der Zeit am Morgen, na ja…definitiv Verbesserungspotential! Die letzten Tage versucht die Kleine mehr und mehr, mich herauszufordern. War das bei euch auch so früh? Sie ist jetzt 16 Monate…Na gut, spätestens beim Sport öffnet sich dann mein Ventil.
Lieber Gruss in die Schweiz
Stefanie
Isabelle
31. Januar 2017 at 14:20Danke für deinen Kommentar! Ich muss mich morgens auch immer wieder an den Ohren nehmen und die Kleine weniger stressen. Dann funktioniert das nämlich ganz gut 😉 Ja, bei uns fing die Trotzphase auch schon ziemlich früh an, ich würde sagen seit anfang Winter. Da war Mini gute 20 Monate alt. Du machst das richtig mit dem Sport! Da sollte ich mir ein Stück davon abschneiden! Liebe Grüsse nach London 😘
Stefanie
31. Januar 2017 at 14:44Ok, danke für deine Antwort. Dann stell ich mich jetzt darauf ein, dass das erst der Anfang ist…aber zum Glück habe ich deine Tipps ☝🏼 und am besten denken wir immer daran, dass Trotzen für die Persönlichkeitsbildung gut ist. 😘
Gini
31. Januar 2017 at 21:29Super Beitrag, herrlich geschrieben, tolle Tipps!
Isabelle
31. Januar 2017 at 21:30Danke Gini 😘
Jasmine
2. Februar 2017 at 11:12Liebe Isabelle
Danke für diesen tollen Bericht. Leider habe ich ihn erst heute morgen gelesen. Wir hatten nämlich letzte Nacht so eine beschriebene Phase, weil Klein-Madame partout nicht schlafen wollte…
Naja, die kurze Nacht sieht man mir anhand der dunklen Augenringe an. Dagegen gibts ja glücklicherweise gute Kosmetikprodukte 😊. Jetzt hoffe ich nur, dass ich keinen Zettel der Nachbarn im Briefkasten finden werde 😨
Isabelle
3. Februar 2017 at 13:14Oh je. Dann sitzen wir ja alle im gleichen Boot 🙂 Ich hoffe, dass euer Nachbar milde gestimmt ist… Liebe Grüsse, Isabelle
Petra
2. Februar 2017 at 16:50Huhu Isa 🙂
Ich würd Deinem Nachbarn die Adresse von ner Beratungsstelle für Hörgeräte bringen, wenn sie morgens um 3 Uhr überlaut Musik hören… Ja Hey… Ihr meint es ja auch nur gut mit ihm. Unter guten Nachbarn macht man das, er hat sich ja auch die Mühe gemacht, mit der Beratungsstelle raussuchen.. Ehm… 😉
Liebs Grüessli Petra
Isabelle
3. Februar 2017 at 13:13Das wäre noch eine Idee 🙂 Das Problem bei den Hörgeräten ist, dass er dann Mini noch lauter schreien hört 😉
Rebecca
4. Februar 2017 at 13:17Ich mag deine Beiträge. Ungeschönt & ehrlich! Lg
Isabelle
4. Februar 2017 at 13:24Jöö, vielen Dank liebe Rebecca! Dein Feedback freut mich sehr 😌
Fabienne
21. Februar 2017 at 22:01Und wenn du mit dem Gefühl ins Bett gehst, du seist die grösste Rabenmutter der Welt, weil du trotzdem wieder Mal selber mit-ausgerastet bist und die Nachbarn statt deiner Kinder dich herumschreien gehört haben… dann sprichs das nächste Mal auf dem Spielplatz mal an und merke: es geht allen gleich. Entweder sind wir also alle zusammen Rabenmütter oder aber auch nur Menschen. Die kleinen Prinzen und Prinzessinen testen ihre und unsere Grenzen aus und müssen dann halt auch Lernen, dass wir nicht alles mitmachen. Ob’s an Schlafmangel, PMS oder zu wenig Schokolade im Kühlschrank liegt… egal: Mamis sind nicht immer perfekt und müssen es auch nicht sein.
– und die Nachbarn sollen gefälligst ihre Klappe halten! Es ist auch so anstrengend genug.